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Buchrezension: Peter Richter: 89/90

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Der gebürtige Dresdner Peter Richter, heute Kulturkorrespondent der Süddeutschen Zeitung in New York, erzählt von den Wendejahren 1989/90 in seiner Heimatstadt. In aller Drastik wird eine Adoleszenz vorgeführt, die vom Verschwinden einer gesamten Gesellschaftsordnung geprägt ist. Der große Wenderoman ist es allerdings nicht geworden.

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Thomas Brussigs Maueröffnungsphantasie „Helden wie wir“, Uwe Tellkamps behäbige Bildungsbürger-Saga „Der Turm“, Lutz Seilers virale Hiddensee-Memorabilie „Kruso“: All dies sind mögliche Antworten auf die Erwartungshaltung an den „Großen Wenderoman“ über das Ende der DDR. Nun also kommt Peter Richter mit „89/90“. Das Buch passt allerdings schon deshalb nicht in diese Reihe, weil es strenggenommen kein Roman ist. Denn es fehlen dessen Deutschlehrer-Definitionsmerkmale: Keine Entwicklung der Hauptfigur, sie ist zwischen 15 und 17 Jahre alt, schwerst frühreif und verbringt ihre Tage und vor allem Nächte rauchend, saufend und bisweilen klauend aushäusig; die Schule ist zum Schlafen da. Und sie bewegt sich dabei in Milieus, von deren Existenz die meisten Leser wohl nicht einmal ahnten. Und es gibt auch keinen Spannungsbogen, wenn man mal davon absieht, dass hinterher alles anders ist als vorher.

Nein, kein Roman, aber eine stark autobiografische Anekdotensammlung über ein Aufwachsen in einem Lande im freien Fall. Der Ich-Erzähler und seine Punk-Clique hat für die untergehende Kleinbürger-DDR nichts übrig und muss sich dennoch von Neonazis verprügeln lassen, die in ihm eine linke Zecke ausmachen. In den Plattenbaugebieten von Dresden erlangen die Skinheads schnell die Straßenhoheit – dass es in der DDR keine Rechtsradikalen gegeben habe, war immer nur ein frommer Wunsch der Staatsführung. Umgekehrt sind seine eigenen Leute auch nicht zimperlich: Sie knacken die gerade vom Gebrauchtwagenbetrüger für teures Westgeld erworbenen Kadetts und Escorts und fahren sie mutwillig gegen die nächste Wand – weil der Besitzer einen „Deutschland“-Aufkleber einer rechtsextremen Partei draufgepappt hatte.

Linke und rechte Jugendgangs sind die eine Welt – die DDR-„Normalbürger“ die andere. Für diese „Schimmelmenschen“ hat der Protagonist nur fassungslose Verachtung übrig. Sie tragen dauergewellte Vokuhila-Frisuren, Schnauzbart und stone-washed Jeans – Schimmeljeans eben. Die Schimmelmenschen bejubeln Helmut Kohl im Dezember 89 an der Frauenkirche, feiern die Währungsumstellung wie Silvester und werfen dabei ihre wertlos gewordenen Alu-Pfennige wie Konfetti in die Luft. Sie kaufen Westmarken und wundern sich, dass sie bald arbeitslos werden. Sehr schön liest sich das bei Richter am Beispiel der Bierpreise: „Das Coschützer oder Feldschlösschen kosteten jetzt auch in der Kneipe nicht mehr 55 Pfennig das Glas, gewissenlose Wirte wollten auf einmal bis zu zwei Mark West dafür. Wer noch den Schwarzmarktkurs von früher im Kopf hatte, kam auf irgendwas zwischen 14 und 18 Mark für ein Bierchen. Da strich sich der Schimmelmensch verdutzt über den Schnauz, das hatte er irgendwie nicht bedacht bei der ganzen Sache.“

Richter beobachtet respektive erinnert genau, vor allem die Kleinigkeiten des Alltags, darin Walter Kempowski nicht unähnlich. Mit der großen staatstragenden Erzählung von der Wiedervereinigung in Einheit und Freiheit kann dieser damals Sechzehnjährige nichts anfangen, vielmehr wird hier in aller Drastik und mit viel Dresdner Lokalkolorit eine Gegenerzählung aufgemacht, die oftmals urkomisch und immer erhellend ist. Die große Pointe dabei: Die schimmeligen Einheitsjubler sind zu Wendeverlierern geworden; der Protagonist und seine Clique haben hingegen ihre neuen Möglichkeiten genutzt, waren mobil, waren im Ausland, haben jetzt interessante Jobs. Und ihren Frauen, die nicht in diesem kleinen, sonderbaren Land DDR aufgewachsen sind, haben sie einiges zu erzählen.

Geschrieben von Benedikt Hotze

4. August 2015 um 11:18

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