tzetze

Das Blog von tze

Buchrezension: Endstation Größenwahn: Die „Sanierung“ von Essen-Steele (1998)

keine Kommentare

Das historisch bedeutende Ruhrgebiets-Städtchen Steele ist 1929 zu Essen eingemeindet worden. Kaum kriegszerstört, ist dort in den 1970er Jahren eine so genannte „Sanierung“ aus dem Ruder gelaufen.

Ein unglaublich verdienstvolles Buch von 1998 hat die politischen und sozialen Hintergründe dieser weitgehend sinnlosen Zerstörungen akribisch aufgearbeitet.

Gut 50% der „Hauptgebäude“ in Steele wurden abgerissen, die Bürger lebten jahrelang in einem Trümmerszenario wie im Krieg, und was heute noch von der historischen Stadt übrig ist, wird umzingelt von unwirtlichen sechsspurigen Trassen der „autogerechten Stadt“. Reportedly (um das anklagende deutsche Wort „angeblich“ zu vermeiden) war Steele eine der zehn Hotspots der „Flächensanierung“ in der Bundesrepublik und in West-Berlin.

Lieber Tim Schanetzky,

eigentlich wollte ich Ihr Buch ja selbst schreiben. Naja, nicht das ganze Buch, aber immerhin die Schlussfolgerungen daraus. Zum Beispiel, dass Lokalpolitiker der SPD die gründerzeitlichen Fassaden deswegen abreißen wollten, weil sie diese hässlich fanden (und nicht, weil dahinter empirisch nachweisbare prekäre sanitäre Verhältnisse bestanden hätten, wie immer behauptet wurde, was Sie aber widerlegt haben).

Jedenfalls hatte ich geplant, die Skandalgeschichte der „Sanierung“ meiner damaligen Heimat im Rahmen meines späteren Architekturstudiums in den 1980er Jahren in Braunschweig im Fach Städtebau einzureichen. Ein Glück, dass ich das nicht begonnen habe, denn die unfassbare Materialfülle, die Sie gesichtet und ausgewertet haben, hätte die Möglichkeiten meiner Seminararbeit sehr deutlich überschritten.

Autobiografischer Rückblick: Ich bin als vierjähriges Kind 1968 mit meiner Familie nach Steele gezogen und als 15-jähriger Teenager Ende 1979 dort wieder weggezogen. In diese Zeit fiel die Sanierung mit ihren verstörenden Abriss-Erfahrungen. „Mama, reißen die unser Haus auch ab?“, fragte ich bang. Nun, diese Gefahr bestand nicht, da wir in einer herrlichen Mietwohnung in der Schnütgenstraße am Steeler Stadtgarten wohnten – in einer privilegierten Wohnsituation weit außerhalb (und topografisch oberhalb) des Sanierungsgebietes.

Die Verkehrssituation in Steele vor der Sanierung war tatsächlich schwierig: Busse und Straßenbahnen quälten sich durch die einspurige Hansastraße. Als Kind habe ich dort die Autoabgase kaum ertragen können, da half auch die geschenkte Wurstscheibe des Metzgers nicht.

Als Fahrschüler, der ab 1974 mit der S-Bahn von Steele zum Essener Hauptbahnhof fuhr, habe ich die Transformation des Steeler Verkehrsplatzes in allen Etappen erlebt: Der gemütliche historische Bahnhof Steele-West vor Blumenrabatten wich einem jahrelangen Provisorium. Bagger von O&K und Hublader von Caterpillar haben einen ganzen Berg abgetragen und einen neuen Nahverkehrs-Hub zwischen S-Bahn, Bus und Straßenbahn ermöglicht. Die dafür geschaffenen Pavillons sind heute allerdings auch schon wieder erneuert.

Das Warenhaus Wertheim, dessen Entstehungsgeschichte („Kufus-Skandal“) Sie ja anschaulich beschreiben, wurde von uns ganz normal benutzt. Meine Mutter kaufte damals Namens-T-Shirts, bei denen mit Rubbelbuchstaben der Vorname des Trägers aufgebügelt wurde. Fünf Mark, für T-Shirt und Buchstaben. Auch mein erstes Fahrrad wurde dort gekauft.

Vor der Sanierung hatten wir unsere Salamander-Kinderschuhe im Schuhhaus Engelien in der Humannstraße gekauft, das gründerzeitliche Haus wurde dann zugunsten des schon beim Bau sinnlosen Wertheim-Parkhauses abgerissen. Ich kenne keinen Steelenser, der jemals in diesem Parkhaus geparkt hätte. Sowieso: Wertheim in Steele ist seit 1979 schon wieder Geschichte, auch das legen Sie faktenreich dar.

So könnte ich unendlich weiter persönliche Anekdoten und Erlebnisse beisteuern, nur: Diese lieferten keinen weiteren Erkenntnisgewinn. Deshalb noch einmal zum Grundsätzlichen:

Sie, lieber Tim Scharnatzky, haben an einem markanten Fallbeispiel die Widersprüche der so genannten „Flächensanierung“ vorgeführt. Diese Ideologie war in den 1960er und frühen 1970er Jahren fachliches Allgemeingut. Sie speiste sich aus der Tradition der klassischen Moderne der 1920er Jahre: „Licht, Luft und Sonne“ statt dunkle Hinterhöfe; „Gegliederte und aufgelockerte Stadt“ statt „Korridorstraßen“. Auch die kunsthistorische Verachtung der Architektursprache des 19. Jahrhunderts spielte dabei eine große Rolle. Und: Im Zustand 1970 waren viele dieser Bauten, die damals 70, 80 Jahre alt und niemals gepflegt worden waren, tatsächlich unansehnlich, zumal im verrußten Ruhrgebiet. „Fortschrittliche“ Stadtplaner lehnten diese Bauten aus sozialhygienischen Gründen ebenso ab wie bürgerliche Ästheten aus formalen, auch wenn Siedler früh die „Gemordete Stadt“ beklagte. Nun kam außerdem noch eine uninformierte Riege aus Lokalpolitikern hinzu, die ebenfalls aus sozialpolitischen Gründen eine „Sanierung“ wollte und sich für Mobilitätslösungen im Sinne der „autogerechten Stadt“ feiern ließ. Ohne es zu merken oder zu wissen, verließen diese Entscheider damit allerdings die sozial und künstlerisch avantgardistischen Ideale der klassischen Moderne und lieferten ihre Städte einem renditeorientierten Bauwirtschaftsfunktionalismus aus, der mit der Tabula-Rasa-Ideologie riesige Gewinne realisieren konnte – gefördert aus öffentlichen Städtebaumitteln. Eine Win-Win-Situation für die Kulturfernen.

Sie haben meiner – als Kind gefühlten und als Architekturstudent gefestigten – Ablehnung der „Sanierung“ von Essen-Steele ein monumentales Werk gewidmet, für das ich Ihnen auch viele Jahre später noch danken möchte.

Ihr

Benedikt Hotze

Schanetzky, Tim:
Endstation Größenwahn – Die Geschichte der Stadtsanierung in Essen-Steele – Taschenbuch
2008, ISBN: 383750025X

Geschrieben von Benedikt Hotze

22. Januar 2022 um 22:37

Abgelegt in Allgemein

Hinterlasse doch ein Kommentar