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Der Berliner Silvesterrekord ist eine Presse-Ente

1 Kommentar

Über den Jahreswechsel 2012/2013 sollen in Berlin zwei Millionen auswärtige Besucher gewesen sein, allein eine Million davon auf der Feiermeile am Brandenburger Tor. Doch diese Zahlen können nicht stimmen, wie schon eine kurze Rechnung zeigt.

Am Neujahrstag waren sie im Berliner Stadtbild unübersehbar: Autos mit auswärtigem Kennzeichen, viele davon auch aus dem Ausland. Nachmittags gab es Stau auf der Avus stadtauswärts – die Besucher fuhren wieder heim. Die Boulevardmedien hatten uns zuvor ununterbrochen die Taktzahlen zugejubelt: Über zwei Millionen Gäste seien über Silvester in der Stadt, davon eine Million aus dem Ausland. Nirgendwo werde Silvester mit so vielen Besuchern gefeiert wie in Berlin, kein einziges Hotelbett sei mehr frei, hieß es. Berlin sei die „beliebteste Silvesterdestination“, jubeln die Tourismusverantwortlichen. Das mag ja sein. Dennoch sind diese Zahlen absurd hoch. Sie können nicht zutreffen.

Fangen wir bei der Feiermeile an: Dass es eine Million waren, wurde auch von den meisten seriösen Medien übernommen. Die Frankfurter Rundschau/Berliner Zeitung erinnerte sich immerhin an die Grundregeln des Journalismus und fügte hinter die Million den Zusatz „nach Veranstalterangaben“ an. Wer seit Jahrzehnten gewohnt ist, dass bei Demos und anderen öffentlichen Events zwischen den Veranstalter- und den Polizeiangaben oft eine Differenz um bis zu Faktor 10 klafft, mag sich seinen Teil dazu denken: Vielleicht waren es ja auch nur Hunderttausend am B-Tor.

Und die zwei Millionen Gäste, die angeblich über Silvester in Berlin gewesen sein sollen, scheinen bei genauer Lektüre über einen längeren Zeitraum als nur in der Neujahrsnacht ermittelt worden zu sein:

Mindestens zwei Millionen Menschen sind über die Feiertage nach Berlin gekommen. Das sind eventuell sogar noch etwas mehr als vor einem Jahr, sagt Burkhard Kieker (51), der Chef der Berliner Tourismusmarketinggesellschaft Visit Berlin. (Quelle: Berliner Morgenpost)

„Über die Feiertage“ ist so schwammig formuliert, dass damit beispielsweise auch die gesamten zwei Wochen Weihnachtsferien gemeint sein könnten. Jedenfalls waren die zwei Millionen Besucher keineswegs alle gleichzeitig in der Stadt. Wie auch?

Berlin hatte vor einem Jahr etwa 130.000 Hotelbetten (Quelle: Hamburger Abendblatt). Selbst wenn man annimmt, dass sich die Zahl seitdem erhöht hat und wenn man weiterhin auch Pensionen, Backpacker-Hostels, Jugendherbergen und die umstrittenen „Ferienwohnungen“ hinzuzählt (sofern nicht bereits enthalten), wird man vielleicht auf etwa 250.000 gewerbliche Besucherbetten kommen. Die Differenz zu zwei Millionen beträgt also 1.750.000 Betten. Das würde bedeuten, dass jeder zweite der 3,5 Millionen Berliner, vom Säugling bis zur Seniorin, in der Silvesternacht einen Gast privat beherbergt haben müsste. Anders gesagt: In nahezu jeder (!) der 1.887.516 Berliner Wohnungen (Stand: 2008, Quelle: Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, zitiert nach wohnungsanwalt.de) hätte durchschnittlich ein Logiergast über Silvester übernachten müssen – von Hohenschönhausen bis Wannsee, von Spandau bis Müggelheim. Das ist erkennbar vollkommen absurd.

Ärgerlich ist, dass solche Jubelzahlen ungeprüft verbreitet werden. Jedenfalls habe ich in einer kurzen Stichprobe im Netz kein Organ des Qualitätsjournalismus gefunden, das sich mit diesen allgegenwärtigen Zahlen kritisch auseinandergesetzt hätte. Dabei ist es doch so einfach, wie oben gezeigt: Man muss nur die rosa Berlin-Brille absetzen und den gesunden Menschenverstand einschalten.

Geschrieben von Benedikt Hotze

3. Januar 2013 um 16:02

1 Kommentar zu “Der Berliner Silvesterrekord ist eine Presse-Ente”

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  1. Aleksandr Orlov

    21. Jan 13 um 09:33

    Die Masche ist doch bekannt.
    Auch die Lough Parade hatte doch angeblich stets die halbe Weltbevölkerung zu Gast.
    Bis man im Angesicht der Katastrophe mit der Wahrheit rausrücken musste.

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