Unsere Exkursion gilt einem etwas schwierigen Sujet: Nachdem das deutschsprachige Südtirol in der Folge des ersten Weltkriegs im Jahr 1919 an Italien fiel, begann das faschistische Mussolini-Regime ab 1922/23 mit einer forcierten Italianisierung Südtirols, auch mit Mitteln der Architektur und des Städtebaus. Von der einheimischen Bevölkerung als Übergriff einer Besatzungsmacht wahrgenommen, entstanden dennoch Bauten von teilweise hoher architektonischer Qualität.
Drei Tage in Bozen (und Meran) auf den Spuren des „ethnischem Städtebaus“, wie der Berliner Stadtsoziologe Harald Bodenschatz dieses Phänomen bezeichnet.

Das Siegesdenkmal (1935-37 von Marcello Piacentini), gesehen über die Talferbrücke aus Richtung der historischen Bozner Altstadt: Kunde einer neuen Zeit oder Besatzer-Landmarke?
Vereinfacht kann man es so beschreiben: Die historische Altstadt Bozens mit ihrem mittelalterlichem Gepräge wird auch heute noch als „deutsch“ wahrgenommen; die Neustadt westlich (jenseits des Flusses Talfer) wiederum kann als Zeugnis der Italianisierung gelesen werden. Der Siegesplatz mit dem demonstrativen Siegesdenkmal bildet deren Auftakt. Auf der altstädtischen Seite gegenüber wurden im Faschismus hauptsächlich die beiden Gebäude (um)gestaltet, die als Brückentore das städtebauliche Pendant der Neustadt bilden.
Das ist zum einen die Sparkasse, ein 1904 errichteter Bau an der Taufergasse/Museumsstraße, der 1938 von Francesco Rossi „entdekoriert“ und modernisiert wurde.
Das Pendant zur Sparkasse ist das 1937 von Paolo Rossi de‘ Paoli gegenüber entworfene Gebäude der INA-Versicherung. Die prägende Verwendung von gerundeten Baukörpern reagiert auf die städtebauliche Situation des „Brückenkopfes“. Das Gebäude befindet sich heute in einem schlechten Zustand.
Auf der neustädtischen Seite wirkt das Siegesdenkmal, 1935-37 von Marcello Piacentini, städtebaulich etwas bezugslos; es ist ein Solitär auf einer weiten freien Fläche. Der Besucher ist fast dankbar für die Kebab- und Würstel-Bude, die sich Talfer-Imbiss nennt, und für den städtischen Bediensteten, der hier auf dem Kreisverkehr den Rasen mäht.
Es gibt in dem Bau in einem „von hinten“ erreichbaren dunklen Untergeschoss eine museale Aufarbeitung der Geschichte des Denkmals, die wir uns allerdings nicht angesehen haben. Der Aufseher dort schien auch nicht nicht mit Publikum gerechnet zu haben.
Der Architekt Piacentini wird in der gängigen Wahrnehmung der Architektur des italienischen Faschismus als der neoklassizisstische Gegenpol zu „rationalistischen“ Architekten wie Terragni, Figini/Pollini ober Libera dargestellt. Dabei wird gerne übersehen, dass auch Piacentini eine Entwicklung durchlaufen hat. Seine Stadträume in Brescia (den Hinweis dazu verdanke ich Wolfgang Sonne) sind auch für Moderne-Enthusiasten absolut satisfaktionsfähig. Aber hier in Bozen, am Siegesplatz, liefert er erwartbaren neoklassizistischen Architektur-Schmock mit demonstrativen Liktoren-Bündeln als Kanneluren.
Bewegen wir uns also zunächst einmal in nördlicher Richtung weg vom Siegesplatz.
Beim Bau des Armee-Oberkommandos (1935) am Platz des 4. November zeigt Piacentini wuchtigen Formwillen. Die Eingangssituation wird von zwei eckturmartigen Risaliten betont. Der Bau ist ein typisches Beispiel für die konservative (nicht neoklassizistische, aber eben auch nicht avantgardistische) Spielart des italienischen razionalismo, wie sie in jenem Jahren überall im Lande flächendeckend für öffentliche Bauaufgaben realisiert wurde.
Fast niedlich wirkt vor dieser Kulisse der benachbarte Wohnungsbau „Klösterlegrund“ an der Armando-Diaz-Straße 7-31, der um 1924 von Clemens Holzmeister und Luis Trenker (ja, dem Bergsteiger) realisiert wurde. Die Genossenschaft für Staats- und Gemeindeangestellte hatte die beiden deutschsprachigen Architekten mit österreichischem Ausbildungs-Hintergrund mit der Wohnanlage „Rione Battisti“ beauftragt – wohl ein iypischer Fall vor der systematischen Italianisierung der Architektur in Südtirol.
Ein paar hundert Meter weiter findet sich die Gewerbeoberschule in der Cadornastraße 14, errichtet vom Stadtbauamt 1939. Der monumentale Bau mit seinem wuchtigen Portikus schließt die Reihe der demonstrativen Gebäudekomplexe am Talferufer nördlich des Siegesplatzes ab.
Bewegen wir uns nun zurück zum Siegesplatz.
Die etwas weiträumige Anlage wird nicht als zusammengehörige städtebauliche Idee wahrgenommen, sondern eher als Auto-Abstellanlage.
Die Kritik des erwähnten Berliner Architektursoziologen Bodenschatz können wir hier zwar nachvollziehen, nicht aber komplett teilen. Er schrieb:
… hatte zur Folge, dass der durch großzügige moderne Arkaden begrenzte, sehr weiträumige Platz bis heute wenig belebt ist und eine hohle Monumentalität ausstrahlt. Ein neues, ja das neue Stadtzentrum von Bozen ist dieser Platz jedenfalls nie geworden.
Nun, der Siegesplatz setzt sich sich fort, vor allem in der Freiheitsstraße. Und dort finden sich hervorragende Bauten.
Exkurs: Sprache in Südtirol
Offiziell ist Südtirol zweisprachig. Aber versuchen Sie mal, am Bozner Bahnhof mit dem Busfahrer oder dem Trenitalia-Mitarbeiter, der den Ersatzverkehr nach Meran organisiert, deutsch zu sprechen. Das funktioniert meistens nicht, Sie sollten etwas Italienisch können.
Etwas schwer tue ich mich allerdings mit den italienischen Ortsnamen in Südtirol, das demonstrativ als „Alto Adige“, also „Obere Etsch“ bezeichnet wird, weil der Name Tirol unbedingt vermieden werden soll – auch wenn „Sudtirolo“ sprachlich problemlos möglich gewesen wäre. Diese Namens-Nickeligkeit fußt aus den Zeiten des Faschismus. Denn damals wurde ein Konvolut von italienischen Orts- und Flurnamen gesetzlich festgelegt, das der überzeugte Faschist Ettoro Tolomei als private Initiative bereits während des ersten Weltkriegs entworfen hatte. Dieses so genannte Prontuario erlangte 1923 Gesetzeskraft und wird bis heute angewendet (auch wenn es 2010 offiziell wieder außer Kraft gesetzt wurde). Tolomei und seine Kommission hatten die meisten Orts- und Flurnamen frei erfunden, auch wenn er für sich in Anspruch nahm, dabei nach sprachwissenschaftlichen Kriterien vorgegangen zu sein. Er hat sich dabei mehrerer Methoden bedient: Mal hat er deutsche Namen durch eine italienische Wortendung übersetzt (Meran -> Merano), mal hat er ursprünglich lateinische Bezeichnungen italienisiert (Kardaun -> Cardamo), mal hat er den örtlichen Pfarrheiligen herangezogen – obwohl er selbst Atheist war (Innichen -> San Canidido), und mal hat er einfach Quatsch gemacht (Kohlener Bahn -> Funivia dell‘ Colle – Kohlen ist ein Eigenname, kein Pass).
Das Prontuario wird von italienischer Seite aus dennoch bis heute verteidigt, unter anderem mit dem Argument, dass diese italienischen Namen ja nicht nur für Südtirol gelten, sondern für alle Italiener: Diese hätten einen Anspruch darauf, im eigenen Land Ortsnamen in Landessprache vorzufinden. Das ist auf den ersten Blick verblüffend und auch auf den zweiten kaum zu widerlegen.
Dennoch verwende ich in meiner Kommunikation die deutschen Namen. Haarig wird es allerdings, wenn es um Straßennamen geht, die erst unter italienischer Ägide geschaffen wurden: Corso della Libertà finde ich da einfach etwas stimmiger als Freiheitsstraße.
Südlich des Siegesplatzes, entlang der Talfer, schließt sich ein ganz erstaunliches kleinteiliges Quartier an, das rein gar nichts mit dem späteren städtebaulichen Pomp zu tun hat: In der Venedigerstraße wurde schon 1927 vom Institut für Volkswohnbau vom Architekten P. Bertanza ein Ensemble erbaut, das eher wie eine kleinstädtische Architektur-Fantasie aus dem Veneto anmutet.
Es war die erste die erste große italienische Siedlung in Bozen. Allen Häusern ist die programmatische Verwendung von Stil- und Gestaltungselementen der venezianischen Architektur gemeinsam.
Noch etwas weiter südlich am Ufer treffen wir auf diese Bauten:
Die Villa Ben an der Quiriner Wassermauer 12, 1933 von Francesco Rossi für den Notar Ben, nimmt Wohnungen für drei Familien auf.
An der Quiriner Wassermauer 14 befindet sich die Villa Briani, 1935 von Gino Briani, dem Bruder des Bauherrn, eines Arztes. Hier scheint die Eleganz des Razionalismo durch.
Das Mutter-Kind-Haus an der Venedigerstraße 49 wurde 1935 von Guido Dorna für für die Opera Nazionale Maternità e Infanzia errichtet.
Unweit entfernt davon treffen wir an der Drususbrücke auf das Highlight der rationalistischen Architektur in Bozen: das faschistische Jugendbildungsheim Casa del GIL. Diese Bauaufgabe hat in ganz Italien zu architektonisch hervorragenden Beispielen geführt, zum Beispiel in Rom von Luigi Moretti. Auch in Südtirol sind laut Literatur mehrere ähnliche Bauten realisiert worden.
In Bozen wurde die Casa del GIL trotz eines überschaubaren Programms aus städtebaulichen Gründen gestreckt und mit einem markanten Turm am Flussufer versehen. Architekten: Francesco Mansutti und Gino Miozzo, 1934-36.
Das Bozner Objekt stand lange leer und war vor Ort ungeliebt. Doch für die Umnutzung zur Europäischen Akademie Bozen (Eurac) wurde schließlich ein Wettbewerb veranstaltet, den der Grazer Architekt Klaus Kada gewann. Er hat 2002 eine Erweiterung realisiert, die auf meinen Bildern nicht sichtbar ist. In diesem Zusammenhang wurde das historische Gebäude sorgfältig restauriert. Ein baukulturelles Highlight für Bozen und Südtirol!
Unweit entfern an der Trieststraße haben Ettore Sottsass und Willy Weyhenmeyer 1929-31 im Auftrag der Stadt Bozen die Badeanstalt Lido errichtet.
An der Drususallee 47-53 und 65-69 realisierte Armando Ronca eine Wohn- und Geschäftsanlage in zwei straßenbegleitenden Baukörpern.
Mit dem Gerichtsplatz ist eine städtebauliche Anlage von hohler Monumentalität entstanden, die von zwei öffentlichen Gebäuden ausgebildet wird. Das Gerichtsgebäude, 1939 von Paolo Rossi de Paolo und Michele Busiri Vici, ist eine neoklassizistische Anlage mit einer mächtigen Kolonnade.
Die ehemalige Casa Littoria, 1939 von Guido Pelizzari, Luis Plattner und Francesco Rossi, wendet dem Gerichtsplatz eine fensterlose Fassade entgegen.

Gerichtsplatz mit dem Gerichtsgebäude (links) und der Casa Littoria (rechts) mit der fesnterlosen Platzfassade
Exkursion nach Meran
Das Rathaus von Meran an der Laubengasse 192 wurde 1927 von Ettore Sottsass in einer historisierenden Manier in das Stadtzentrum eingefügt.
Im Gegensatz dazu markiert die Casa del Fascio, 1931 von einem unbekannten Architekten an der Romstraße 1-3 errichtet, den Willen der faschistischen Partei, im Stadtbild sichtbar zu sein. Absichtlich konkurriert das Haus mit der unmittelbar benachbarten Spitalkirche. Das bedeutende rationalistische Baudenkmal mit einer feinsinnigen Volumetrie erscheint heute ungenutzt; im Eingangsbereich wird Sperrmüll gelagert.
Literatur
– Architektenkammer der Provinz Bozen (Hg.), Architektur in Südtirol 1900 bis heute, Bozen 1993 (Edition Raetia)
– Karin Kretschmer, Architekturführer Südtirol, Berlin 2020 (DOM publishers) Meine Rezension in der Bauwelt (PDF)
– Harald Bodenschatz und Daniela Spiegel (Hg.), Städtebau für Mussolini. Auf der Suche nach der neuen Stadt im faschistischen Italien, Berlin 2011 (DOM publishers)
Ulrike Harstick-Tacke
15. Aug. 25 um 15:37
Lieber Benedikt,
Schöner Artikel! Ich war schon mehrmals in Meran und auch schon einmal in Bozen, aber da hatte ich eine andere Brille auf. Sehr aufschlussreich.
Herzliche Grüße von Ulrike