Wir arbeiten weiter am Contest „Finde die älteste neugotische Kirche“. Zuletzt hatten wir Riesigk im Dessau-Wörlitzer Gartenreich ins Rennen geworfen, heute schlagen wir Paretz vor.
Zunächst: Was soll das?
Kurzer kunstgeschichtlicher Crashkurs: Nach den Stilen von Romanik über Gotik, Renaissance und Barock bis zum Klassizismus gab es den „Stil“ des Historismus. Dieser bestimmte das 19. Jahrhundert bis zum ersten Weltkrieg. Im Historismus wurden vergangene Stile kopiert bzw. nachgeahmt, weswegen diese Epoche noch Jahrzehnte danach auch unter Fachleuten als „wertlos“ galt. Dennoch prägt der Historismus unsere Städte weit mehr als alle anderen Epochen davor; das liegt an der schieren gebauten Masse im Zeitalter der Industrialisierung. Fabriken, Amtsgerichte, Krankenhäuser und nicht zuletzt Kirchen wurden in den „Neo“-Stilen errichtet.
Zurück zu unserem Contest: Wann fing das eigentlich an? Genauer: Welche Kirche in Deutschland kann als erste als „neugotisch“ bezeichnet werden?
Eine mögliche Antwort haben wir heute in Paretz (Landkreis Havelland, Land Brandenburg), einer klassizistischen städtebaulichen Anlage, wiederbesucht. Die vorgefundene mittelalterliche Kirche (gotischer Feldsteinsaalbau) wurde dafür 1797/98 entscheidend umgebaut. Die örtliche Tourismuswerbung stellt fest, die Dorfkirche sei „die älteste neugotische Kirche in Preußen“.
Das quasi-amtliche Dehio-Handbuch (2012) regelt das einen Gang runter:
Eine der frühesten erhaltenen Anlagen der Neugotik in Brandenburg. Dreiteilige Maßwerkfenster von einer Umgestaltung unter F.A. Stüler 1856/57. Der schlichte Innenraum mit verputzter Spitztonne überspannt und mit illusionistischer Grisaille-Malerei nach Idee von D. Gilly versehen.
Klar ist hier, dass die Kirche einer klassizistischen Raumidee folgt, die lediglich „gotisch“ ornamentiert wurde. So wie Schinkel die Friedrichswerdersche Kirche „gotisch“ ausgeführt hatte, obwohl er zuvor auch andere Ornamentiken ins Kalkül gezogen hatte.
Gleichwohl steht es im Contest 1:1: Paretz wurde, ebenso wie Riesigk, 1797 begonnen. Wer bietet mehr?
Beifang I: Ein schöner Wasserturm im benachbarten Ketzin von 1929.
Der denkmalgeschützte, leicht expressionistisch beeinflusste Wasserturm wird von einer Privatperson zum Kauf angeboten.
Beifang II: Villa Havelblick in Ketzin. Der Dehio weiß dazu:
Stattlicher zweigeschossiger Putzbau mit übergiebeltem Mittelrisalit und Belvedereturm, errichtet 1888 in Anlehnung an den von L. Persius geprägten Villenstil.
Habe ich schon erwähnt, dass ich Ludwig Persius für den originellsten Schinkelschüler halte?