Mit dem Geburtsjahrgang 1964 bin ich einen Tick zu jung, um das „Linksalternative Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren“ (Untertitel) selbst als erwachsener Akteur erlebt haben zu können. Noch einmal drei Jahre jünger ist der Autor dieser Untersuchung: Der 1967 geborene Sven Reichhardt erforscht auf 1.000 Seiten mit dem Instrumentarium des neutralen Wissenschaftlers die selbsternannte alternative Avantgarde, die das geistige Klima in Deutschland im Grunde bis heute entscheidend prägt – das Buch ist eine imponierende Fleißarbeit.
Aufmerksam geworden bin ich auf dieses Buch durch eine Rezension von Jens Bisky in der Süddeutschen Zeitung (hier die Perlentaucher-Zusammenfassung). Darin hebt der Ostdeutsche Bisky hervor, dass er im Kapitel „Hausbesetzungen“ plausibel nachlesen konnte, warum in Frankfurt/Main, Westberlin und anderenorts Häuser „instandbesetzt“ wurden. Das Kapitel über die Hausbesetzungen ist in der Tat auch deswegen interessant, weil es zwischen verschiedenen Akteuren und ihren unterschiedlichen Motivationen unterscheidet – hier akademisch geprägte, politisierte Kämpfer um den Erhalt von Wohnraum gegenüber der Spekulation, dort junge arbeitslose Trebegänger, Alkis und Drogis, die einfach nur irgendwo pennen wollten (Reichhardt drückt das natürlich wissenschaftlicher aus).
Erkenntnisgewinn also zu einem Architektur- und Städtebau-Thema. Wir haben dennoch erst einmal die „spannenden Stellen“ nachgeschlagen: Im Kapitel „Körper und Sexualität“ lernen wir, dass die Mitglieder der Kommune 1 offenbar überhaupt keinen promisken Sex hatten, im Gegenteil: Für die Fotosession des berühmten Bildes, bei dem die Kommunarden nackt mit gespreizten Armen und Beinen an einer Wand stehen und rücklings abgelichtet wurden, haben sich die Bewohner zum ersten Mal gegenseitig unbekleidet gesehen, und sie waren froh, sich danach schnell wieder anziehen zu können. Diese Information ist zwar weder neu (sie wurde laut Fußnote schon 2002 publiziert), noch hat sie im engsten Sinne etwas mit dem betrachteten Zeitraum zu tun – es überrascht dennoch. Die Beschreibung der sexuellen Libertinage im alternativen Kommunen- und WG-Milieu ist jedenfalls offenbar weitgehend ein Narrativ der bürgerlichen Presse, die – schaurig-schön – voyeuristische Projektionen transportiert hat. Die Wirklichkeit in der alternativen Beziehung war dagegen viel anstrengender: „Sexualität wurde zwar als Befreiung aus kapitalistischer Repression empfunden, aber die Sensibilisierung für den eigenen Körper und die Bedürfnisse des Partners kam nicht ohne eigene Normierungen aus.“ Mit ihrer Psychologisierung formte das linksalternative Milieu “einen Sexualitätsdiskurs, der keinerlei Freiräume mehr zuließ“: Intimste Details wurden öffentlich gemacht und kollektiv besprochen.
Ein Phänomen aus der linksalternativen Ecke habe ich im Hochschulmilieu der achtziger Jahre als sehr präsent erlebt: den Feminismus. Es waren obligatorische Sprachregelungen ergangen wie die Schreibweise mit Binnenmajuskel („StudentInnen“). Bezeichnungen wie „Mädchen“ oder gar „Mädel“ für erwachsene Frauen waren hingegen strengstens verboten, jedes weibliche Wesen ab 18 musste als „Frau“ bezeichnet werden. Freundliche Blicke zu einer Frau hin wurden als Macho- oder Chauvi-Angriff gebrandmarkt. Auch ohne Gendertheorie – die kam später – war dies ein unerwartet penetranter sozialer Konformitätszwang, der außerhalb des akademischen Milieus keine große Rolle spielte – außer bei Politikern, die seitdem stoisch „Wählerinnen und Wähler“ sagen, selbst dann, wenn sie konservativ sind und derartigen Tinnef eigentlich ablehnen. Reichhardts Buch behandelt den Feminismus knapp und nur in seinen politischen Hauptströmungen – die Verunsicherungen im Alltag, die er auslöste, erwähnt er nicht.
Gleichwohl ist das Buch eine Fundgrube, wenn etwa über alternative Kneipen, Buchläden oder Zeitungen berichtet wird. Obwohl etwas zu jung, mag man immer wieder sagen: „Genau so war es!“ Es ist das Verdienst dieses Buches, mit wissenschaftlicher Genauigkeit und unparteiischer Beschreibung all das noch einmal erklärt zu bekommen, was das eigene Umfeld zu Zeiten der Adoleszenz geprägt hat: die Idee, man könne sein Leben „in alternativen Zusammenhängen“ führen.
Sven Reichardt: Authentizität und GemeinschaftLinksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2075 Berlin 2014, 1018 Seiten, ISBN: 978-3-518-29675-2, 29,90 Euro