Irgendwann musste sie ja kommen, die Gretchenfrage: „Papa, glaubst du an Gott?“ fragte mich eine meiner Töchter im Alter von 14. Ich antwortete ihr mit einer Gegenfrage: „Kommt darauf an, wie du Gott definierst“. Wir haben das damals nicht vertieft. Und die etwas komplexere Antwort habe ich hier aufgeschrieben.
1. Ethik
Der jüdische Wanderprediger Jesus von Nazareth hat vor 2000 Jahren ein ganz erstaunliches ethisches Konzept entworfen und vertreten, das ich sehr unterstützenswert finde: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst; halte auch noch die andere Wange hin; was ihr euren Nächsten getan habt, das habt ihr auch mir getan; selig sind die Friedfertigen. Solche Sachen halt – eine menschenfreundliche, gemeinwohlorientierte, tendenziell pazifistische und sozial emphatische Agenda.
Bezogen auf die aktuelle politische Situation finde ich das Konzept der Nächstenliebe jedenfalls überzeugender als das Konzept des Fremdenhasses. Das ist ein ganz großes Plus des Christentums in der heutigen Gesellschaft angesichts einer in den Parlamenten vertretenen, abendländisch selbsterregten Hassfraktion. Der Grünen-Co-Vorsitzende Robert Habeck hat mal sinngemäß gesagt: „Ich bin nicht gläubig, aber in bin in der Kirche, aus Gründen der gesellschaftlichen Solidarität.“ Das hat mir gefallen. (Nachtrag: Inzwischen habe ich gelesen, dass er aus der evangelischen Kirche ausgetreten sei; das mindert aber nicht seine zitierte ‚Äußerung.)
Mehr zum organisierten Christentum, vulgo: zur Kirche, später; hier erstmal die selbstkritische Frage: Habe ich Jesus richtig verstanden?
2. Jesus
Über kaum eine Person der Weltgeschichte wurde so viel nachgedacht und veröffentlicht wie über Jesus Christus. Unter Berufung auf ihn gibt es sowohl „Jesus People“ der Hippie-Bewegung als auch sektiererische Evangelikale in den USA und inzwischen auch in Südamerika. Und nicht zuletzt stützt sich eine der immer noch einflussreichsten Glaubensgemeinschaften der Welt, die katholische Kirche, auf ihn.
Ich empfehle zu Jesus übrigens ein kleines Büchlein des verstorbenen österreichischen Ex-Priesters Adolf Holl, „Jesus in schlechter Gesellschaft“ (dtv, antiquarisch für kleines Geld auf den einschlägigen Plattformen zu beziehen).
Wobei schon der Name des Mannes problematisch ist. Die meisten Leute glauben ja, dass „Jesus Christus“ eine Kombination aus Vor- und Nachname sei. Tatsächlich ist „Christus“ ein Ehrentitel, der ihm erst nach seinem Tod verliehen wurde („der Gesalbte“). Wer also „Jesus Christus“ sagt, trifft damit bereits eine Glaubensaussage. Neutral müsste man ihn „Jesus“ nennen, ggfs. erweitert um seine geografische Herkunft, also „Jesus von Nazareth“.
Aber hat es Jesus tatsächlich gegeben, und woher weiß man, was er wirklich gelehrt hat?
Abgesehen von einer – als relevant bewerteten Quelle – des neutralen römischen Geschichtsschreibers Plinius gibt es ansonsten nur eine interne kirchliche Quellenlage: die Evangelien der Bibel, die als kanonisch anerkannt wurden. Allerdings wurden keine anderen antiken Texte so genau untersucht wie die vier Evangelien und die Briefe des Neuen Testaments. Darum hat sich seit Rudolf Bultmann eine Kohorte von Theologen gekümmert, die den Wissenschaftszweig der „historisch-kritischen Exegese“ begründet hat. Mit Methoden der vergleichenden Textkritik versuchen sie, bestehende Texte auf ihre Quellen zurückzuführen – und damit ihre historische Plausibilität, oder einfacher: ihre Echtheit zu belegen.
Das ist für Gläubige, die jeden Bibeltext als direkt von Gott stammend verstehen, schwer zu ertragen. Aber die historisch-kritische Exegese wird spätestens seit dem 2. Vatikanischen Konzil (1961 bis 1965) auch von der katholischen Kirche anerkannt und seitdem an theologischen Fakultäten und im Religionsunterricht gelehrt.
Die Exegeten unterscheiden zwischen authentischen Worten des „historischen Jesus“ und späteren Hinzufügungen. Dazu muss man wissen, dass alle Texte der Evangelien viele Jahrzehnte nach der Lebenszeit von Jesus verfasst wurden. Keiner der Evangelisten Matthäus, Markus, Lukas und Johannes hat Jesus persönlich erlebt oder gekannt. Aber sie schöpfen teilweise aus (heute verlorenen) älteren Quellen. All das lässt sich durch akribische Textkritik nachweisen. Manche sagen, dass die Exegese die einzige wissenschaftlich legitimierte Teildisziplin der Theologie sei…
Man wird wohl der intellektuellen Redlichkeit keinen Tort antun, wenn man die oben bereits skizzierten zentralen Botschaften des Jesus von Nazareth als historisch authentisch bewertet. Dessen ethisches Konzept, das der Verfasser des Matthäus-Evangeliums in der so genannten Bergpredigt verdichtet zusammenredigiert hat, halte ich für wertvoll und tragfähig.
3. Gott
Eine andere Dimension erreicht die Betrachtung aber, sobald Transzendentes ins Spiel kommt. Die Kirche hält Jesus ja nicht nur für den Stichwortgeber einer zeitlosen Ethik, sondern für den „Sohn Gottes“. Diese Vorstellung steht in der jüdischen Tradition der Erwartung eines irgendwann auftretenden „Messias“, die von den Autoren des Neuen Testaments gezielt bedient wurde. Der historische Jesus hat sich jedenfalls selbst nachweislich nicht in dieser Rolle gesehen.
Die Legitimation der Gottessohnschaft leitet die Kirche vielmehr über das Narrativ der österlichen Auferstehung Jesu nach seinem Tod am Kreuz ab.
„Deinen Tod, oh Herr, verkünden wir, deine Auferstehung preisen wir, bist du kommst in Herrlichkeit“.
Dieses „Geheimnis des Glaubens“ kennt jeder Katholik auswendig aus dem Gottesdienst-Ritual. Nur gibt es keinerlei Beweise für diese Auferstehung von den Toten, und selbst die Autoren der Evangelien legen sich keineswegs so eindeutig fest, wie die Kirche das gerne darstellt, vgl. dazu einen verblüffenden Text aus dem Zeit-Magazin. Darin heißt es:
Auch in der Bibel selbst werden also Stimmen laut, die das Ostergeschehen in Zweifel ziehen.
Diese Auferstehung kann also durchaus, wie viele andere biblische Erzählungen auch, als symbolisch oder metaphorisch gedeutet werden. Schließlich richtete sich die Bibel an eine bildergläubige, agrarisch geprägte antike Zielgruppe, nicht an aufgeklärte moderne Intellektuelle.
Nebenbei: Ausgerechnet die sonst so liberale evangelische Kirche hat einen Theologieprofessor, Gerd Lüdemann, fallen gelassen, weil dieser die Auferstehung aufgrund der biblischen Quellen fundiert bezweifelt hatte.
Die Auferstehung Jesu als historisches Faktum muss also als unbelegt angesehen werden.
Und bis hierhin habe ich noch gar nichts über die Idee eines „allmächtigen Gottes“ gesagt. Das macht noch einmal ein neues Fass auf.
Die Vorstellung eines personales Wesens, das per Gebet persönlich angesprochen werden kann, daraufhin gezielt in unsere Welt eingreift und quasi per Zauberkraft Fußballtore schießt oder Krankheiten heilt – eine solche Vorstellung (Theismus) ist mit einem naturwissenschaftlich-kausalen Weltverständnis nicht vereinbar. Daher habe ich mich von diesem Gottesbild der Volksfrömmigkeit bereits als Jugendlicher verabschiedet. Dem widersprechen auch nicht individuelle Glaubenserfahrungen, die manche Menschen gemacht haben (wollen). Ich jedenfalls halte es eher mit dem griechischen Philospohen Epikur, der ein göttliches Eingreifen in das Weltgeschehen verneint hat.
Originell die Anekdote des britischen Autors Richard Dawkins, der sich an einem evangelikalen amerikanischen Publikum abarbeitet: Auf die Frage, was er sagen werde, wenn er nach seinem Tod wider Erwarten doch Gott begegnet, werde er antworteten: „Welcher Gott bist du? Baal?“ (Baal galt in der jüdisch-christlichen Tradition als ein „heidnischer Götze“). „Oder Jahwe?“ (Jahwe ist der hebräische Name des Gottes des Alten Testaments.)
Diesen Gedanken verfolgt auch Martin Ebert, der im Magazin der Süddeutschen Zeitung Nr. 37 vom 15. September 2023 eine ähnliche Argumentation verfolgt:
Ricky Gervais, britischer Komiker und erklärter Atheist, schreibt in einem Essay im Wall Street Journal, dass Historiker alle übernatürlichen Wesen gezählt haben, von denen seit der ersten Verschriftlichung der Menschheitsgeschichte vor etwa 6000 Jahren durch die Sumerer erzählt wurde. Sie kamen demnach auf 3700 Wesen, von denen 2870 als Gottheiten gelten können. »Wenn mir das nächste Mal jemand erzählt, dass er an Gott glaube, frage ich: An welchen? Zeus? Hades? Jupiter? Mars? Odin? Thor? Krishna? Vishnu? Ra? … Wenn sie dann sagen, dass sie nur an Gott glauben, an den einen Gott, werde ich sie darauf hinweisen, dass sie fast so atheistisch sind wie ich. Ich glaube nicht an 2870 Götter, und sie glauben nicht an 2869.
Daraus folgt meine nicht allzu komplexe Erkenntnis: Religionen sind Erfindungen von Menschen, denn anders lässt sich die jahrtausendelange weltweite Religionsgeschichte nicht erklären. Die Menschen haben ihnen unerklärliche Phänomene, von Unwettern und Sonnenfinsternissen über Krankheiten und Todesfälle bis hin zu Seuchen und Kriegen, nicht einordnen und verstehen können und daher dahinterstehende, übersinnliche Mächte dafür verantwortlich gemacht. Dies geschah in verschiedenen Epochen und Kulturtraditionen mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen, und so gab und gibt es in der Welt so viele verschiedene Religionen und Götter, dass keine davon einen übergeordneten absoluten Wahrheitsanspruch beanspruchen kann. Denn warum sollte ausgerechnet die Religion „wahr“ sein, in die ich zufällig hineingeboren wurde?
Diese simple Erkenntnis müsste eigentlich jedem aufgeweckten Grundschüler einleuchten. Trotzdem diskutieren hochmögende Theologen jahrzehntelang über Spezial-Themen wie Rechtfertigung (z.B. Küng, der damit den Widerspruch zwischen Katholiken und Protestanten aufgelöst haben will, wofür ihm – unter anderem – dann später von der katholischen Seite die Lehrbefugnis entzogen wurde).
Zur Gottesfrage muss dann auch noch kurz die zentrale Frage angesprochen werden, die man als das „Theodizee“-Problem bezeichnet: Wenn Gott allmächtig ist, warum lässt er dann das Leid zu? Warum hat er den Holocaust nicht verhindert, warum lässt er zu, dass Kinder an Krebs sterben? Die Religiösen sagen: Erst der Glaube ermöglicht es den Menschen, mit solchen Schicksalsschlägen umzugehen. Die anderen sagen: Theodizee ist der Beweis, dass es keinen gütigen allmächtigen Gott gibt.
Jedenfalls beruhen die Gottesbeweise der Gläubigen stets auf der logischen Figur des „Beweises durch Behauptung“. Auffällig ist jedenfalls, dass die behauptete Mächtigkeit Gottes im Laufe der Jahrhunderte immer weiter geschrumpft ist – in dem Maße, in dem Naturwissenschaften die Welt plausibler erklären konnten.
Dieser evidente Widerspruch hat ab dem letzten Drittel des 20. Jahrhundert zu einer eigenen Literaturkategorie geführt, die ich als „populäre moderne Dogmatik“ bezeichne. Gemeint sind damit Bücher von Theologen, die traditionelle Glaubensinhalte modern und liberal erklären möchten – und damit teilweise hohe Buchauflagen erreichten. Im protestantischen Bereich fällt mir Heinz Zahrnt ein – zugegeben, ohne ihn gelesen zu haben –, im katholischen Bereich vor allem der von mir als 16-Jährigen sehr verehrte Hans Küng.
Die Machart dieser Literaturgattung ist stets gleich: Die Leserin und der Leser werden mit ihren „modernen“ und „skeptischen“ Fragestellungen im Anriss jedes Kapitels abgeholt. Damit wird Vertrauen eingeworben, so dass die Leserin gar nicht merkt, dass die danach formulierten Glaubensweisheiten eben doch traditionell sind. Viele dieser Autoren befinden sich in einem beruflichen Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Kirchen (der verstorbene Küng allerdings seit dem Entzug seiner Lehrbefugnis 1980 nicht). Den Hinweis auf die strukturelle Logik dieser Literaturgattung verdanke ich übrigens Heinz-Werner Kubitza mit Der Dogmenwahn – einem Buch eines abtrünnigen protestantischen Theologen, das er im Eigenverlag herausgebracht hat. Eine kluge Demontage vor allem meines Jugendhelden Hans Küng leistet Franz Buggle mit „Denn sie wissen nicht, was sie glauben“. Da heißt es zusammenfassend über Küng:
(Auch er nimmt) prinzipiell zu den üblichen Strategien moderner Theologie Zuflucht, Unhaltbares als auch heute noch vertretbar (…) erscheinen zu lassen, wenngleich er differenzierter vorgeht, als dies durchschnittlich in der kirchlichen (…) apologetischen Literatur geschieht. Dies kann allerdings leicht zu der Täuschung führen, mit der (…) Artikulation solcher Einwände seien diese auch schon befriedigend beantwortet bzw. widerlegt (…).
Zur Gottesfrage abschließend: Ich bin nicht so anmaßend, alles zu wissen. So kann ich nicht ausschließen, dass es eine übergeordnete Instanz gibt, die ich nicht zu erkennen vermag. Aber an einen „allmächtigen Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde“ (Credo) glauben zu sollen, wie es die traditionelle Theologie festlegt, ist absolut unplausibel. Somit sehe ich mich als Agnostiker: Ich weiß, dass ich es nicht weiß.
4. Kirche
Die Exegeten sind sich einig: Jesus war ein jüdischer Reformprediger, aber er hat keine Kirche gegründet und erst recht keine Weltreligion stiften wollen. Die katholische Kirche ist vielmehr eine Erfindung des untergehenden Römischen Reichs, das im 4. Jahrhundert zur Selbstlegitimation eine bislang unbedeutende und verfolgte Sekte zur Staatsreligion erhoben hat. Aus dieser Zeit rührt die ganze Crux des Katholizismus mit all seinen Dogmen, seinen undemokratischen Strukturen und seiner patriarchalischen, menschenfeindlichen Macht-Anmaßung. Der beschämende Umgang des kirchlichen Apparats mit dem allgegenwärtigen sexuellen Missbrauch heute erklärt sich aus diesen Strukturen. Doch gehe ich auf diese Thema hier nicht weiter ein, da es in den Medien zu Recht schon sehr präsent ist.
Nur das: In einer sehr differenzierten Reportage über den emeritierten Papst Ratzinger hieß es im Spiegel:
Man muss sich das klarmachen: In der traditionellen katholischen Ethik ist die Entweihung einer Hostie schlimmer als der sexuelle Missbrauch eines Kindes. (…) Denn die Hostie ist der tatsächliche Leib Christi. Ein Schabernack mit einer Oblate ist Gotteslästerung, Missbrauch eines Minderjährigen aber ist nur ein Unrecht, das einem Menschenkind angetan wird.
So etwas macht jeden denkenden und fühlenden Menschen sprachlos.
Zurück zur Kirchenfrage: Sorry, liebe Protestanten, ich sehe auch in der lutherischen Reformation keinen wesentlichen Anhaltspunkt zur Besserung der Zustände. Zwar wurden etliche Zöpfe abgeschnitten wie das überbordende materialistische Ablasswesen oder der faktische Primat der Tradition vor der Schrift, aber letztlich waren auch die Kirchen der Reformation Akteure in Religionskriegen wie dem 30-jährigen Krieg und feudalen Machtstrukturen (cuius regio, eius religio). Zudem führen die heutigen „moderneren“ Strukturen bei den EKD-Kirchen hierzulande auch nicht zu einem begeisterteren Zuspruch der Massen als bei den Katholiken. Und anderenorts sind es gerade Kirchen und Sekten in protestantischer Tradition, die in den USA oder in Lateinamerika korrupte und faschistische Strukturen preisen und predigen. Und seit Martin Luthers (zeitbedingte) Judenfeindlichkeit zu Recht thematisiert wird, taugt der Mann auch nicht mehr zur Lichtgestalt.
Zurück zum Katholizismus: In den nunmehr 45 Jahren, in denen ich das aus eigenem Erleben überblicken kann, hat die katholische Kirche sämtliche Reformbestrebungen behindert und ausgehebelt. Sie hat ausgerechnet ihre besten Leute rausgeschmissen oder mit Lehrverboten belegt. Sie hat den Geist des 2. Vatikanums wieder eingesperrt, statt das Fenster des Johannes XXIII. offen zu halten. Sie hat die Ergebnisse der Würzburger Synode (deren Abschlussgottesdienst ich 1975 als Elfjähriger im Fernsehen gesehen habe) ignoriert. Viele gutwillige und engagierte Kirchenmitglieder sehen sich ausgebremst und verzweifeln an den Strukturen. Austrittswellen wie in Köln derzeit beschädigen das Fundament irreparabel. Gleichzeitig pöbelt eine konservative Minderheit in den (sozialen) Medien aggressiv für ein traditionalistisches Kirchenbild.
Deren Argument, dass sich die Kirche nicht dem „Zeitgeist“ öffnen dürfe, weil sie „ewige“ Glaubenswahrheiten verkünde, kann ganz leicht entgegengehalten werden, dass die Kirche in guter katholischer Tradition als „ecclesia semper reformanda“ (dt.: Kirche, die sich immer reformieren muss) angelegt ist – und sich auch stets gewandelt hat. Kreuzzüge und Hexenverbrennungen werden auch konservative Hardliner nicht mehr als Markenkern des Katholizismus verkaufen wollen.
Warum bin ich also immer noch Mitglied in der Kirche? In meiner Generation der Babyboomer ist die Biografie „erst Messdiener, später Kirchenaustritt“ eher die Regel als die Ausnahme, zumindest in meinen Kreisen. Doch Austritt erschien mir immer als zu einfach. Kirche ist auch ein in der eigenen Kindheit angelegtes Heimatgefühl (auch wenn es angesichts monströser Pfarrei-Zusammenlegungen und Kirchengebäude-Entwidmungen schwer fällt, diese Heimat noch zu verorten). Ich habe bisher immer das weite Dach einer Volkskirche verteidigt, unter dem verschiedene Strömungen ihren Platz haben. Das Hineingeborensein in eine kirchliche Gemeinschaft ist eine Last, aber auch eine Verpflichtung.
Als junger Mensch hatte ich ernsthaft erwogen, Theologie zu studieren, um die Kirche von innen zu verändern. Ausgerechnet ein katholischer Priester riet mir von diesem Hazard ab. Später habe ich dann die Koppelung von Kirchenmitgliedschaft und Kirchensteuerzahlung in Frage gestellt. Ich wollte über die Verwendung meines Geldes selbst bestimmen, ohne „auszutreten“. Das Erzbistum Berlin beschied mir in einer geradezu jesuitisch anmutenden Antwort, dass eine Erklärung vor dem Amtsgericht, die Kirchensteuer nicht mehr zahlen zu wollen, von der Kirche als meine Willensäußerung zum Austritt ernst genommen würde.
Die Journalistin Christiane Florin hat kürzlich mit einem kleinen Büchlein, eher einem verzweifelt-wütenden Essay, die Gemütslage der enttäuschten reformorientierten Kirchenmitglieder auf den Punkt gebracht: „Trotzdem. Wie ich versuche, katholisch zu bleiben“ (Leseprobe hier). Darin heißt es: „Die Spitzen dieser Institution hat alle moralischen Maßstäbe verrückt. Sie hat das Harmlose kriminalisiert [gemeint ist das Festhalten an der traditionellen katholischen Sexualmoral] und das Kriminelle verharmlost“ [gemeint ist der Umgang mit der sexualisierten Gewalt von Priestern gegenüber Kindern]. Die Verlagswerbung zitiert dazu den Kölner Stadt-Anzeiger: „Keine Durchhalteparole, keine Beschwichtigung – sondern ein Appell zur Ungeduld.“
Die Ungeduld habe ich mir inzwischen allerdings abgewöhnt.