So etwas habe ich noch nie gesehen: eine katholische Kirche mit vier sternförmig auf einen Zentralbau mit Altar („Sanktuarium“) ausgerichteten Langhäusern. Das Grundriss-Layout erinnert nicht zufällig an die übliche Bauweise von Gefängnissen im 19. Jahrhundert: Das Kloster vom Guten Hirten in Berlin-Marienfelde, errichtet 1904, diente dazu, „sittlich gefährdete“ Mädchen wegzusperren.
Die amtliche Denkmaltopographie führt dazu aus:
Die Schwesternschaft, die seit 1858 in Charlottenburg eine Niederlassung mit einem Erziehungsheim für „sittlich gefährdete“ Mädchen unterhielt, hatte den Umzug in die noch unbebaute Feldmark von Marienfelde beschlossen, um die Insassen dem vermeintlich schädlichen Einfluss der Großstadt zu entziehen. Die vierhundert Mädchen, die wie in einem Gefängnis gehalten wurden, arbeiteten in der Bäckerei und Wäscherei sowie auf den zugehörigen Feldern und Gärten, die sich um das Kloster bis zur Marienfelder Allee und zur Hildburghauser Straße erstreckten.
Der ungewöhnliche Grundriss basiert auf der Gefängnisarchitektur des 19. Jahrhunderts, unterscheidet sich aber von den Gefängnissen des panoptischen Systems dadurch, dass in der Mitte der sternförmigen Anlage nicht die Überwachungsstation, sondern die Klosterkirche angeordnet ist. Vom siebeneckigen Sanktuarium, überhöht durch Zeltdach und Glockenturm, gehen vier sternförmig ausstrahlende Kirchenschiffe ab, an die sich deutlich höhere viergeschossige Wohntrakte anschließen.
Als wir am gestrigen Sonntag Nachmittag dort waren (Malteserstraße 171), war die Kirche überraschenderweise geöffnet. Stille Beter verloren sich in den Bänken der vier Langhäuser. Der völlig ungewöhnliche Raumeindruck der neugotischen Kirche und die archaisch anmutende Nutzung ließen uns eher an Hogwarts als an eine lebendige Gemeindekirche denken.
Die dort ehedem inhaftierten Mädchen wurden baulich daran gehindert, selbst in der Kirche andere Mädchen zu treffen. In den 1960er Jahren wurde das Ensemble entschärft und zu einem Sozialzentrum mit Seniorenheim und einer Schule umgebaut. Dennoch bleibt die Bauweise dieses Kirchen-Ensembles gruselig anschaulich als Zeugnis für die Perversion der gefängnishaften Jugendfürsorge bis weit in die Nachkriegszeit.
Klaus-Dieter Dubbke
30. Aug 23 um 11:30
Meine Mutter war in dieser Einrichtung, genannt Kloster Marienfelde, vier Jahre – von 1923 bis 1927 eingesperrt als Opfer einer Vergewaltigung. Kind weggenommen, 20 Goldmark am Tag von Familie bezahlt. Sie war 13 Jahre, als sie das Kind gebar. Übelste Zeiten und schlimmste Erfahrungen unter dem Dach der Kirche.
Benedikt Hotze
31. Aug 23 um 00:23
Vielen Dank für diese erschütternde Information. Ich hatte den Beitrag ursprünglich rein architekturhistorisch angelegt. Doch gern veröffentliche ich hier in der Kommentarspalte weitere Betroffenen-Berichte.