Als ich Neujahr 1989 nach Westberlin kam, sagte man mir: Wir fangen alle in Neukölln an, aber wir wollen hier schnell weg – obwohl David Bowie „Neuköln“ (sic!) schon in den frühen Achtzigern besungen hatte. Heute ist Neukölln Hipster-Hochburg. Und ich habe das Haus Richardstraße 63, das damals meine erste Berliner Unterkunft wurde, jetzt wiederbesucht: ein denkmalgeschütztes 50er-Jahre-Gebäude in der Tradition der 20er Jahre. Doch wer war dessen Architekt Ludwig Spreitzer? Eine erste Recherche führt vor allem in die NS-Zeit.
Das Eckhaus Richardstaße/Kanner Straße ist mir schon damals sofort aufgefallen. Mit den farblich abgesetzten Fensterprofilen zeigte es Reminiszenzen an Bruno Taut und die Neue Sachlichkeit der 1920er Jahre; auch die abgerundete Ecklösung sprach dafür. Lediglich die Treppenhausbefensterung deutete auf die Fifties hin.
Im Inneren gibt es eine Laubengangerschließung; die Zwei-Zimmer-Wohnungen haben eine Größe von 41 Quadratmetern. Das Haus steht unter Denkmalschutz. Inzwischen wird es von einem Immobilien-Heini als „Richard Quartier“ vermarktet: Offenbar wurden die bescheidenen Wohnungen in Eigentum umgewandelt.
Laut Denkmalliste wurde das Haus von einem „Gross, Günther“ (also wohl einer Privatperson) als Bauherr errichtet und vom Architekten Ludwig Spreitzer 1952 geplant und 1953/54 gebaut.
Erst bei meinem jetzigen Wiederbesuch wurde ich auf den Namen des Architekten aufmerksam, den ich zuvor nie gehört hatte.
Eine erste Web-Recherche findet hauptsächlich Bezüge zur Siedlung am Grazer Damm von 1938-40, der größten realisierten Wohnsiedlung aus der NS-Zeit in Berlin mit rund 2.000 Wohnungen. Diese trutzigen fünfgeschossigen Walmdachbauten, die gleichwohl städtebaulich den „Luftkrieg“ bereits vorwegenommen hatten (!), wurde unter anderem von Ludwig Spreitzer geplant. Genauer: In der Denkmalliste und im Standardwerk „Berlin und seine Bauten IV A“ von 1970 werden dafür die Architekten Hugo Virchow, Richard Pardon, Carl Cramer und Ernst Danneberg genannt, also Spreitzer nicht. Das neuere Standardwerk zum Wohnungsbau der NS-Zeit, Michael Haben, „Berliner Wohnungsbau 1933-45“, weist hingegen eine Beteiligigung Spreitzers zumindest für den Block zwischen Riemenschneiderweg und Overbeckstraße nach. Es ist auch eigentlich fast egal, denn die Blocks am Grazer Damm wurden einer strengen Gestaltungsordnung nach einem Lageplan von Carl Cramer sowie finanziellen Beschränkungen kurz vor dem Krieg unterworfen und unterscheiden sich untereinander fast nicht.
Die zweite verwertbare Quelle im Netz, ebenfalls aus der Denkmalliste, führt zu einem Bau in Charlottenburg am Einsteinufer 69ff., den Ludwig Spreitzer 1953 „teilweise wiederaufgebaut“ hat. Interessanterweise stammt der neusachliche Ursprungsbau von 1931 von Richard Pardon, also einem der später auch am Grazer Damm Beteiligten.
In dem schon erwähnten Standardwerk von Michael Haben finden sich noch zwei weitere Treffer: Ein Wohnblock auf einer Baulücke in der Charlottenburger Goethestraße 10-11 (1939-41) sowie Kleinstwohnhäuser am Unkeler Pfad in Frohnau für Bewag-Arbeiter.
Eine im Faksimile wiedergegebene Vertriebenen-Zeitung von 1954 weist schließlich noch auf eine „Ostpreußen-Siedlung“ von Spreitzer aus den frühen Fünfzigerjahren zwischen Birkbuschstraße und Dalandweg in Steglitz hin.
Im Netz finden sich außerdem noch kaum lesbare Pläne für Lager in Guben; offenbar war Spreitzer auch mit der Planung von Zwangsarbeiter-Unterkünften in der NS-Zeit betraut.
In den einschlägigen Büchern in meinem Schrank habe ich ansonsten nichts über ihn gefunden, das soll als erster Befund reichen, um die Frage erneut aufzuwerfen: Wer war der Architekt Ludwig Spreitzer?