Stadtautobahn in Berlin, Höhe Tegel, es geht nach Hamburg. Montag, 16 Uhr, der Verkehr fließt zäh. Normalerweise fahre ich solche Strecken lieber mit der Bahn. Aber am Ziel möchte ich in der Fläche beweglich sein, da hilft dann ein Auto sehr. Das Ziel ist Schleswig-Holstein, und dort sind es Kapellen und Kleinkirchen aus den sechziger Jahren, die ich besuchen will. Seltsames Ziel? Sicher. Ergebnisse? Naja. Am Anfang stand eine im letzten Moment aus politischen Gründen abgesagte Journalistenreise…
Bethlehemkirche in Witzhave, Kreis Stormarn, 1967. Arch.: Brigitte Eckert-von Holst, Hamburg. Alle Fotos: Benedikt Hotze, Mai 2012
Witzhave ist ein Dorf an der Autobahn kurz vor Hamburg. Ich habe 300 Kilometer hinter mir. In Witzhave soll eine Kleinkirche aus dem Jahr 1967 stehen, die 2010 entwidmet worden ist. Womöglich ist sie schon abgerissen, im Netz habe ich keine eindeutigen Angaben dazu gefunden. Vor Ort angekommen, suche ich sie. Es kann ja nicht so schwer sein, in einem Dorf die Kirche zu finden, einfach in der Ortsmitte suchen – dachte ich. Ich finde die Kapelle schließlich mit Hilfe der Topografischen Karte 1:25.000, die ich mit meinem Telefon aufrufen kann. Dort ist ein Kreuz markiert und die schöne kleine Abkürzung „Kp.“ für Kapelle. Sie liegt am Ortsrand, am Ende einer kleinen Wohnstraße.
Die Kapelle in Witzhave ist eine von ca. 100 Kleinkirchen, die die evangelische Kirche in den sechziger Jahren in Schleswig Holstein in einem systematischen „Kapellenbauprogramm“ errichtet hatte. Dazu hatte es sogar zwei Architekturwettbewerbe gegeben. Einige daraus hervorgegangene Entwürfe (nicht nur der Preisträger) sind mehrfach gebaut worden, einer sogar 17 mal. Ziel war es, die durch Flüchtlingsströme stark angewachsenen Gemeinden mit Kirchenraum zu versorgen, deswegen stehen diese Kirchen ausnahmslos in Dörfern, in denen es zuvor keine Kirche gab. Heute werden manche dieser Kleinkirchen nicht mehr gebraucht und stehen leer – wie in Witzhave. Der seltsame Standort dort erklärt sich übrigens durch die Umstände des Baus: Es musste dafür ein freies Grundstück gefunden und erworben werden, das ließ sich leichter und billiger am Ortsrand realisieren.
Aber warum nur interessiere ich mich für Sechziger-Jahre-Kapellen in Schleswig-Holstein? Da muss ich etwas ausholen. Ich war eigentlich angemeldet für die traditionelle Pressereise des Deutschen Nationalkommitees für Denkmalschutz, eine beim Kulturbeauftragten der Bundesregierung in Bonn aufgehängte, hochseriöse Institution. Dieses Mal, im Mai 2012, sollte die „Nachkriegsmoderne in Schleswig-Holstein“ das Thema sein – Bauten wie die Universität in Kiel und das „Kieler Schloss“ waren darunter, aber eben auch vier Kleinkirchen aus dem genannten Programm. Doch wenige Tage vor der Reise kam die Absage durch den Veranstalter. Dieser versteckte die Begründung nicht hinter Floskeln, sondern nannte in einer E-Mail an die Teilnehmer Ross und Reiter:
Die Präsidentin des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz, die hessische Staatsministerin Eva Kühne-Hörmann, hat entschieden, die diesjährige Pressefahrt des DNK nach Schleswig-Holstein nicht stattfinden zu lassen. Zur Begründung hieß es, das Team der Geschäftsstelle des DNK habe bei den Vorbereitungen der Exkursionen und Diskussionsrunden keine Unterstützung von Seiten des zuständigen schleswig-holsteinischen Kultusministeriums erfahren. Während die zweitägige Veranstaltung in der Vergangenheit jeweils mit großem Engagement auch der gastgebenden Institutionen organisiert werden konnte, hatte die Landesregierung in Kiel in diesem Jahr eine Kooperation bis zum Schluss hinausgezögert und damit eine rechtzeitige Einladung an Journalisten unmöglich gemacht. (…) Die unzureichende Kooperation wird von Seiten des DNK auch im Zusammenhang mit der aktuellen Landtagswahl in Schleswig-Holstein gesehen. Die DNK-Präsidentin bedauerte die erstmals in der Geschichte des Komitees notwendig gewordenen Absage.
Die Landtagswahl ist inzwischen vorbei, die FDP darf sich als Wahlsieger fühlen. Die bisherige schwarz-gelbe Landesregierung hatte bekanntlich zuvor den Denkmalschutz in Schleswig-Holstein abgeschafft liberalisiert. Bauten, die jünger sind als 65 Jahre, sollen in Schleswig-Holstein überhaupt nicht mehr geschützt werden. Folgerichtig, dass die Landesregierung die Pressereise mit ihrem gleichsam gegenteiligen Anliegen platzen lässt.
Als ich die Absage bekam, setzte sich sofort der bei mir durchaus vorhandene Restreflex des Trotzes durch: Dann fahr ich eben alleine! Ich wollte meine Reise aber auf das Kapellenprogramm fokussieren. Schnell erfuhr ich, dass es genau dazu ein im letzten Jahr erschienenes Standardwerk gibt, das mir der Verleger freundlicherweise postwendend als Rezensionsexemplar schickte: Matthias Ludwig: „…viele kleine Kirchen“ Das Kapellenbauprogramm der 1960er Jahre in Schleswig-Holstein. Damit konnte ich meine Reise planen; die Kirchen in Witzhave und Todendorf würde ich noch am ersten Reisetag bei Tageslicht erreichen.
Kapelle in Todendorf, Kreis Stormarn, 1967. Arch.: Hanns Hoffmann, Münster/Westf.
Nach einer Übernachtung in einem sehr preiswerten Hotel in Hamburg-Wandsbek (ohne Frühstück, aber mit Parkplatz) ging es dann am nächsten Tag los in Richtung Ostsee.
Kapelle in Rethwischdorf, Kreis Stormarn, 1970. Arch.: Hanns Hoffmann, Münster/Westf.
Kapelle in Pelzerhaken, Stadt Neustadt/Holst., Kreis Ostholstein, 1968. Arch.: Hanns Hoffmann, Münster/Westf., und Joachim Barth, Oldenburg/Holst.
Auch in Rethwischdorf steht die Kirche nicht im Dorf, sondern am Rand. Sie sieht haargenau so aus wie die in Todendorf. Dieser Entwurf aus dem ersten Kapellenwettbewerb 1961 wurde sechs mal gebaut. Architekt Hanns Hoffmann aus Münster hatte dafür keinen Preis bekommen, sein Entwurf war aber unter den als „geeignet“ eingestuften. Typisch der zeltdachartige Turm, dessen Dachneigung schon am Boden beginnt – ein Nurdach-Turm also. Der eigentliche zentrale Kirchenbau ist ebenfalls als Zelt-Analogie gestaltet; charakteristisch sind die diagonal über einem Quadrat angeordneten Hauptbinder mit ihren außen demonstrativ sichtbaren Fußpunkten. Dennoch kommt hier erstmals auch Unbehagen beim Betrachter auf: Das sind also die Kapellen, um derentwillen ich 1.500 Kilometer fahren will? Sie haben eine merkwüdige Anmutung irgendwo zwischen Friedhofskapelle und sakralem Gebrauchskitsch…
Der geschichtliche Wert der Kleinkirchen liegt in ihrer Bedeutung für die Kirchengeschichte sowie Landes- und Religionsgeschichte im Nachkriegsdeutschland. Besonders in Schleswig-Holstein legen sie Zeugnis für die Zeit der Neustrukturierung, der Umsiedlungen und der Stadtflucht ab.
Das schreibt Dirk Jokanski im erwähnten Band zu der Frage „Kapellenbau und Denkmalpflege“. Ich besichtige hier also Zeugnisse der Stadtflucht. Künstlerischer Wert „kommt eher aufwändig gestalteten, auch auf einen speziellen Ort bezogenen (…) Bauwerken zu, die zuweilen in Einzelwettbewerben mit zwei bis drei Architekten entstanden sind“. Davon werde ich mit Bliesdorf auf diesem Trip immerhin noch eine sehen.
Kapelle in Bliesdorf, Gemeinde Schashagen, Kreis Ostholstein, 1966. Arch.: Otto Andersen, Hamburg/Meldorf
Vicelin-Kapelle in Riepsdorf, Kreis Ostholstein, 1968. Arch.: Gert Johannsen, Hamburg
Georgskapelle in Dahme, Kreis Ostholstein, 1964. Arch.: Henry Schlote, Hamburg
Im Urlaubsort Dahme muss ich die Kirche wieder erstmal suchen. Lauter fröhliche Feriengäste aus dem Ruhrgebiet kommen mir auf dem Fahrrad entgegen. Hier trägt die Kirche den notorischen Zeltdachturm als Dachreiter obenauf. Ich beschließe, meinen ursprünglichen Reiseplan, der mich noch bis zur Nordsee geführt hätte, erheblich abzukürzen und auch nicht irgendwo auf dem Land, sondern in der Großstadt Kiel zu übernachten. Dieses Mal hat das Hotel Frühstück, aber keinen Parkplatz. Am nächsten Tag trete ich den Rückweg nach Berlin an und nehme nur noch zwei Kapellen mit, die des Weges liegen.
Kapelle in Heidmühlen, Kreis Bad Segeberg, 1963. Arch.: Uwe Kubitza, Wedel/Holst.
Apostel-Johannes-Kirche in Oering, Kreis Segeberg, 1966. Arch.Peter Scholz, Kropp, Reutlingen
Viele der Kirchen, die ich gesehen habe, waren noch in kirchlicher Nutzung, wenn auch nicht unbedingt mit regelmäßigen Gottesdiensten. Die aufgegebene Kirche in Witzhave (die auch den Titel des genannten Buches schmückt), ist mir dabei merkwürdigerweise am nächsten gegangen. Vielleicht, weil sie schon bald weg sein wird.
Bethlehemkirche in Witzhave, Kreis Stormarn, 1967. Arch.: Brigitte Eckert-von Holst, Hamburg
Nachtrag 2018: Die Kapelle in Witzhave ist gerettet und dient nun als Nebengebäude eines nebenan neu errichteten Kindergartens
Fundstück
Was ist das? Leuchtturm? Wasserturm? Ladekran? Wenn auch keine Kirche, so bestimmt dieses merkwürdige Gebilde die Küstenlinie am Ostseebad Pelzerhaken: der ehemalige Fernmeldeturm M des Marinefernmeldesektors 73 der Bundesmarine, in Betrieb von 1964 bis 1992